365_ Ein Jahr lang täglich zeichnen- ich plaudere aus dem Aquarellkästchen

Dies soll ein kleiner Erlebnis- und Befindlichkeitsbericht werden über eine Herausforderung, der ich mich vergangenes Jahr gestellt habe, nämlich jeden Tag eine Zeichnung zu machen. In den sozialen Netzwerken sind ja solche „Challenges“ unheimlich beliebt, Grund für mich war zweierlei: ich merke im Rückblick auf mein Werk, dass ich gerne seriell arbeite, es gibt regelrechte Werkgruppen. Der zweite Grund war, dass wir zum 31.12.2022 unseren landwirtschaftlichen Betrieb in die Hände eines jungen Hofnachfolgers gelegt haben und sich damit unser Leben, unser Rhythmus und unsere Möglichkeiten radikal verändert haben.

REISELEPORELLOS

Dieses ganz besondere Jahr wollte ich dokumentieren und habe mir von einer befreundeten Buchbinderin 12 Monatsleporellos mit jeweils 31 Seiten anfertigen lassen. Mit Leporellos arbeite ich schon lange gerne. Der Name Leporello geht auf die Opernfigur des Dieners von Don Giovanni zurück, der eine Liste all seiner Liebschaften führt. Ein „accordion sketchbook“, wie es im Englischen heißt, bietet die Möglichkeit, eine Zeichnung über mehrere Seiten zu erstrecken. Gleichzeitig ist es ein sehr kompaktes Format für die Reise!

JANUAR

Hier seht ihr die ersten 3 Blätter des Jahres: den Besuch eines Segnungsgottesdienstes am Neujahrsmorgen, der 30. Geburtstag unserer ältesten Tochter und die erste Übernachtung des Jahres in unserem Campingbus. Anfangs habe ich wirklich tagebuchähnlich gezeichnet und versucht, eine Farbreduzierung durchzuhalten, was allerdings nicht lange funktioniert hat. Dies ist eine Tuschezeichnung, die dann mit Aquarellfarben koloriert wurde. Von Anfang an habe ich eine gewisse Geschwindigkeit angestrebt, denn diese zeit am Tag muss man ja erst einmal finden. Es hat mir sehr gut getan, Fehler zu ignorieren und einfach weiter zu machen - der große Nachteil eines Leporellos, der mir hier zur guten Übung wurde.

Die ersten drei Blätter des Jahres 2023

FEBRUAR

Das Februarheft ist ein klassisches Reisetagebuch, weil wir durch Marokko gereist sind. Ein Bild zeigt einen absoluten Sprung ins kalte Wasser für mich: ich habe Kinder, die in einer Geröllwüste aus dem Nichts aufgetaucht sind, gefragt, ob ich sie zeichnen darf. Später kamen die Mütter dazu und es war für mich eine gigantische Überwindung, die sich hinterher aber richtig toll angefühlt hat.

MÄRZ

Im März habe ich stilistisch etwas Neues probiert und bin malerischer geworden, habe auf eine Strichzeichnung völlig verzichtet. Wie man sehen kann, war das Wetter durchwachsen im März und es hat ein Großereignis gegeben, das sich in den kommenden Monaten durchziehen wird: unsere Hündin hat zehn Welpen geworfen. Nummer acht war nicht lebensfähig und man sieht, wie wir es im Garten begraben.

APRIL

Im April habe ich Bleistiftvorzeichnungen  koloriert und man kann sehen, wie schön man in einem Leporello über mehrere Seiten erzählen kann, etwa vom Alltag mit Welpen oder von einem Kurztrip nach Amsterdam. Leporellos kann man übrigens im Künstlerbedarf in vielen Ausführungen kaufen oder sich selbst aus seinem Lieblingspapier falten. Ich hätte es auch schön gefunden, zu den Zeichnungen zu schreiben, aber das habe ich extra in einem Büchlein gemacht. In den 10x10 Formaten war einfach zu wenig Platz.

JUNI

Im Juni habe ich mir eine Kunstrichtung vorgenommen, die die von mir sehr verehrte britische Künstlerin Helen Cann betreibt: alles in Landkarten auszudrücken. Natürlich lassen sich Orte am besten in Landkarten beschreiben, aber eben auch Gemütszustände, Überlegungen, Tagesabläufe. Mich fasziniert das sehr. Es sind ein paar Tage aus dem Welpenalltag gezeigt: wie viel Geld kann ich pro Welpe verlangen? Der erste Versuch, mit den kleinen Hunden im Bach zu waten, der Besuch eines professionellen Fotografen und das Auf und Ab der Gefühle, als eine Familie relativ spät von ihrer übernahme eines Welpen zurücktritt.

Unten sind unsere drei Tage auf dem Kirchentag in Nürnberg geschildert und die absolut verrückte Geschichte vom Kätzchen in unserem Motorraum, die hier aber zu weit führen würde.

JULI

Im Juli habe ich mir eine Technik vorgenommen, mit der ich mich total vergaloppiert habe. Auf Instagram habe ich die japanische Künstlerin Ruby Silvious entdeckt, die unglaubliche Miniaturen malt und zwar auf gebrauchte Teebeutel! Das wollte ich auch probieren, weil ich eine leidenschaftliche Teetrinkerin bin. Zu dem Zeitpunkt waren wir mit dem Camper in Skandinavien unterwegs und als Thema habe ich mir Tiere und Pflanzen vorgenommen, die ich dort sehen würde. Auf einem Campingplatz habe ich viele viele Teebeutel aufgekocht und dann zunächst in der Wiese und dann im Omnia Camping-Backofen getrocknet, das trockene Teepulver ausgeleert und die Teebeutel im dortigen Waschraum gebügelt.

Das rechte untere Foto zeigt mich an einem See, dem Pölevattnett, es hat leicht genieselt und das war nur eine der Schwierigkeiten, die sich auftaten. Die Teebeutel sind federleicht und ein Windhauch erfasst sie sofort, sie sind sehr brüchig und empfindlich und sie saugen extrem, so dass eine Untermalung in weiß nötig war und mehrere Schichten Malerei, bis es anfängt, gut auszusehen. So war ich in kürzester Zeit rettungslos zurückgefallen. Denn meinen windstillen Arbeitsplatz im Campingbus mit schlafendem Hund konnte ich auch nicht jeden Tag so aufbauen.

AUGUST

Im August waren wir in Norwegen und auf den Lofoten und hier bin ich um ein Thema nicht mehr herumgekommen, vor dem ich mich mein Leben lang gedrückt habe: die Landschaft! Landschaft war immer das Metier meines verstorbenen Vaters und ich wollte nie dazu in Konkurrenz treten. Aber in Norwegen ist die Landschaft die Hauptperson, man kommt um sie nicht herum und auf 10 mal 10 Zentimetern kann man schon mal einen Versuch machen. Und dann habe ich es geliebt! Hund und Partner brauchen für so eine Zeichenpraxis schon eine besondere Art von Geduld. Deswegen will ich wahrscheinlich immer so schnell sein!

SEPTEMBER

Im September war Schluss mit reisen und so habe ich mir ein sehr häusliches Thema ausgesucht: die Tassen aus meinem Schrank. Irgendwie hat fast jede meiner Tassen eine Geschichte, es gibt Geschenke von lieben Menschen, die teilweise gar nicht mehr leben oder es ist ein toller Flohmarktfund oder die Erinnerung an eine besondere Reise. Ich hab mich furchtbar geärgert, wie die braune Tusche plötzlich so arg verlaufen ist, nachdem die im Januar super funktioniert hatte, aber ich war auch schon abgehärtet. Und obwohl es ein schönes Thema war, war ich der täglichen Zeichnung inzwischen so richtig müde. Ich musste mich richtig schleppen und hatte eigentlich keine Lust mehr. Ich wollte aus dem täglichen Trott raus und wieder etwas anderes machen. Aber es wäre ja albern gewesen, an dieser Stelle aufzuhören.

OKTOBER ABSTRAKT

Im Oktober habe ich eine wunderschöne Nachricht bekommen von einer jungen Künstlerin, die geschrieben hat, meine Reisezeichnungen hätten sie angeregt, selbst wieder ein gemaltes Reisetagebuch zu beginnen und dafür ihre vermeintlich unbeholfenen gegenständlichen Zeichenfähigkeiten wieder herauszukramen, weil sie sonst nur abstrakt malt. Das hat mich dazu gebracht, einen abstrakten Monat einzulegen mit Stimmungen, die ich bildnerisch zu übersetzen versuch habe. Das kam mir schrecklich willkürlich vor und hat ganz ehrlich wenig Spass gemacht.

NOVEMBER HAUSHALT

Das Thema Haushalt, auf das mich ein Fan gebracht hat, hat noch mal richtig gekickt. In einer rotzigen, schnellen Zeichenart habe ich die tägliche Überforderung angesichts der immer neuen Aufgaben des Alltags gezeichnet. Wie man sieht, ist der Garten mir drei Seiten wert. Der hat das ganze Jahr praktisch nichts von mir gesehen und ich habe einen Heidenrespekt, wenn ich im Frühjahr wieder etwas eingreifen will.

DEZEMBER

Und der Dezember war dann auch noch zu schaffen. Mein Thema war Begegnungen und genau das hätte mir beinah das zeichnerische Genick gebrochen: wir hatten so viele Einladungen und Besuche, dass die Zeit für die tägliche Praxis fast nicht zu finden war. Und dann gibt es ja immer so viele Menschen auf den Bildern! Aber mit dem Ende in Sicht lässt sich das bewältigen. Als ich die letzte Seite gezeichnet habe, war die Erleichterung unbeschreiblich!