Binge 76
Ute Plank betätigt sich als Archäologin in den Sedimenten der eigenen Fernsehgewohnheiten
Radtagung 2018, Bunter Abend
Ich gleite in den Saal, wo sich gerade Matthias Jeschke auf seine Lesung vorbereitet. Unvermittelt legt Matthias los und beschwört in einer Wortkaskade, in sich überschlagenden Sätzen, irgendwo zwischen gestrecktem Sprach-Galopp und „Stream of consciousness“, Filme herauf, die ihm etwas bedeuten. Jedem Film wird ein atemloser 4-Minuten-Text gewidmet, die Gäste kommen mit dem Denken kaum hinterher, sind amüsiert, erkennen etwas wieder, sind angerührt, gucken verständnislos. Das Filmspektrum reicht von vermeintlich banal bis zur cineastischen Hochkunst, manches ist mir völlig unbekannt, entzückt erkenne ich James Bond und Jack Reacher, aber vor allem leuchtet für mich eine Erkenntnis mit Aha-Effekt auf: da hat einer denselben Vogel wie Du, taucht ebenso gerne in die filmischen Erfindungen kreativer Geister ab und sucht sich Wahlverwandte in Sitcom und Serie, TV-Drama und Action- Explosion.
Bei mir sind es die Serien, die mir fade Stunden bunt machen und zu Hause unternehme ich den Versuch, mich an alle Serien zu erinnern, die ich je gesehen habe. Denn natürlich habe ich schon als Kind angefangen mit Flipper, Lassie und Catweazle. Nur musste man für die jeweilige Folge (nur eine!!!) noch das Spiel im Freien unterbrechen und heimkommen, um eine Sendung gucken zu können, die im Fernsehprogramm der Tageszeitung mit dem kleinen Häschen für Kinderprogramm gekennzeichnet war.
Im Zug meiner Recherche in der eigenen Vergangenheit realisiere ich schnell, dass „Glotzen“ natürlich kein Alleinstellungsmerkmal von Matthias Jeschke oder mir ist.
Filme rufen Leidenschaften hervor, das Zeit-Magazin fragt im Märzheft die 50 Lieblingsserien seiner Mitarbeiter ab und verzeichnet die promptesten Antworten auf eine Firmen-Rundmail in der gesamten Geschichte des hausinternen Mailverkehrs.
Ich empfinde die neu gewonnene Freiheit des Streamens immer noch als Luxus: mir anzusehen, was ich will, wann ich will. Und welche fantastischen Geschichten und Einblicke mir das gewährt hat: an den Königshof von Troja und Heinrichs des VIII. konnte ich mich ebenso „beamen“ lassen wie an den Königshof der jungen Elizabeth II oder ins Weiße Haus. Ich durfte Verbrechern auf der Spur sein, durch Städte schlendern, die ich vielleicht nie betreten werde, die „Denke“ von Anwälten ergründen und bei einer OP am offenen Herzen dabei sein. Manches haben wir als Familie angesehen und die Gerichte von Sarah Wiener gemeinsam nachgekocht.
Ich empfinde das als alles keineswegs als banal. Sorgfältig entwickelte Charaktere und raffinierte Geschichten, das alles ist in meine Bildideen gekrochen und hat mich immer wieder neu gefesselt. Zu jeder Serie, die mir eingefallen ist, habe ich eine Postkarte gestaltet. Noch nie habe ich so viel Resonanz bekommen, wie auf die Veröffentlichung dieser Kleinstwerke auf Instagram.
Bei 79 war ich nicht durch, ich habe aufgehört.
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