Ich fahre zum Zeichnen nach Oberammergau und erlebe Überraschungen und kleine Wunder
English text at the bottom
Zum Zeichnen zu den berühmten Passionsspielen in Oberammergau zu fahren, wurde mein Traum, nachdem ich ein beeindruckendes Interview mit Spielleiter Christian Stückl im Radio gehört hatte. Seine leidenschaftliche Herangehensweise, der Wille zu Reformen und das Abklopfen der Passionsgeschichte auf ihren aktuellen Bezug, das interessierte mich ungemein. Das Volkstheater mit der jahrhundertealten Tradition stellte ich mir bunt und aufregend vor, zeichenwürdig, spannend ins Bild zu setzen. Das Stück würde meine Erwartungen weit übertreffen.
Will frau live zeichnen, ohne dazu eingeladen zu sein, ist eine Minimalausstattung ein Muss. Zum ersten darf keine Tasche mit ins Theater, die größer als DIN A 4 ist. Und: es gibt schlicht keinen Platz für aufwändige Paletten, Wasserbecher und ein Pinselsortiment. Ich sitze schließlich an einem ganz normalen Platz, eng an eng mit einem mir fremden Sitznachbarn, unsere Ellbogen berühren sich fast.
Das ist es also, was ich auf dem Schoß balanciere: eine kleine Schachtel mit vier Abteilen, die einmal Edelstahl-Eiswürfel beinhaltet hat. Ich habe mich für Vandykebraun, Karminrot, Paynesgrau mit einem Schuss Cyanblau und Gouacheweiß entschieden. Das kleine Leporello im Format DIN A 6 von Hahnemühle heißt “the ZigZagbook” und ich habe die 18 Seiten zu Hause ockerfarben grundiert, um einen neutralen Mittelton zu haben. Mein Pinsel mit Wassertank ist von Faber Castell und mein Füllfederhalter mit braunen Patronen ist ein No Name Produkt. Dazu umklammere ich noch ein Baumwolltuch, um Pfützen oder Fehler abtupfen zu können.
Die erste Hürde, die ich nehmen muss, ist die der Befangenheit: “Was denkt mein Sitznachbar?”. Die Angst vor frei ausgesprochener Kritik ist zwar völlig unbegründet, weil noch nie vorgekommen, sie lauert aber trotzdem. Die zweite Hürde ist, nicht in Hektik zu verfallen. Zu meiner völligen Überraschung sind nach der feierlichen Anfangsmusik Unmengen Menschen auf der Bühne. Nicht zehn oder dreißig oder fünfzig, sondern buchstäblich hunderte! Unmöglich, diese Ansammlungen zu erfassen, zumal ein lebhaftes Hin und Her herrscht. Mich in aller Ruhe für eine Szene zu entscheiden und sie notfalls aus der Erinnerung oder Fantasie fertig zu stellen ist jetzt die Herausforderung. Die leise Unentschlossenheit und das unvermeidliche Gefühl der Überforderung sieht man der ersten Szene oben noch an.
Der Jesus, an diesem Abend gespielt von Rochus Rückel, ist wenigstens nur einer ;) . Obwohl er in großen Schritten auf der Bühne unterwegs ist, kann ich sein Gesicht ganz gut studieren. Ich möchte darstellen, was mich jetzt anfängt, in seinen Bann zu ziehen: die Menschenliebe, die Zugeneigtheit zu den Kindern und Benachteiligten, aber auch die Unbeirrbarkeit seines Wesens, die absolute Radikalität, die die altvertrauten Texte so leidenschaftlich gespielt auf einmal wieder für mich ausstrahlen. Ich glaube, die “Massenszenen” verdeutlichen mir gut die politische Brisanz, die die Aussagen dieses “Wanderpredigers” hatten - und ihre absolute Zeitlosigkeit, die genau heute, in Zeiten eines europäischen Krieges und einer Pandemie so tagesaktuell sind, dass ich nur neu staunen kann. So eine schnelle Zeichnung, im Halbdunkel des Zuschauerraums auf kleinem Format, kann diesen Ausdruck natürlich gar nicht in sich tragen. Aber für mich kann sie die Erinnerung an die Bedeutsamkeit dieser Momente und Aussagen immer neu auslösen, weil es ja meine “Handschrift” ist, die das notiert hat, nur eben nicht schriftlich, sondern bildlich.
Der Chor, in schlichten, bäuerlichem Gewand, ganz in Schwarz mit weißen Blusen, betritt in feierlichem Ernst die Bühne. Zu den Gesichtern kehre ich immer wieder zurück, wenn die SängerInnen auf der Bühne sind. Sie geraten mir etwas zu sehr in Richtung Karikatur, aber so ist es mit einem festen Skizzenbuch, die “Fehler”, oder nennen wir es die getroffenen Entscheidungen, bleiben stehen.
Ich bin hellauf entzückt: Tiere auf der Bühne! Ich habe mich schon so über die vielen Kinder gefreut, die mitspielen und über den Esel, auf dem Jesus in der ersten Szene in “Jerusalem” einreitet. Und nun bei der Vertreibung der Händler aus dem Tempel Schafe, Ziegen, wegflatternde Tauben, die ich, die Nase im Skizzenbuch, fast verpasst hätte, und Pontius Pilatus auf einem sehr großen, schweren Pferd, das später alle mit seinem herzhaften und ausführlichen Räuspern amüsiert.
Der Aufbau der Abendmahlsszene aus schweren Stoffbahnen ist wunderbar. Mit den naturfarbenen Gewändern (Hut ab an die Kostümabteilung übrigens!) und dem natürlichen Kerzenlicht ergibt das eine Stimmung wie in einem Rembrandts Nachtwache. Ich bin ganz hin- und hergerissen, einfach nur zu schauen und diese Szene zu Papier zu bringen - während ich aufs Blatt sehe, verpasse ich ja, was gerade auf der Bühne geschieht.
Die unglaublichen “lebenden Bilder” zwischen den Szenen kann ich wegen meines Sitzes ganz weit am Rand immer nur zur Hälfte sehen. Der Engel tritt aber auch aus den Bildern heraus, verkörpert ohne Flügel so etwas wie eine göttliche Präsenz.
Die Stimmung wird düsterer, die Volksszenen aufgeheizter, die Verhöhnung Jesu ist fast unerträglich anzusehen und auch nicht zu zeichnen.
Für die Oberammergauer, die römische Soldaten spielen, gilt der Haar- und Barterlass nicht, weil sie bartlos sind. Alle anderen Männer dürfen sich eineinhalb Jahre vor Beginn der alle zehn Jahre stattfindenden Vorstellungen Bart und Haar nicht mehr schneiden, das gilt auch für die Haare der Frauen.
Der Verrat des Judas wird hier etwas anders ausgelegt: er wird in eine Fall gelockt und verrät den Aufenthaltsort Jesu nicht aus niederträchtigen Motiven. Seine Gewissensqualen hinterher spielt ein sehr junger Mann herzzereißend gut.
Die imposantesten Tiere auf der Bühne sind zwei Kamele. Sie stehen sehr gechillt und mit angemessen gelangweiltem Blick zwischen den Kriegerinnen des Herodes, die sehr viele Game-of-Thrones-Vibes ausströmen - wieder tolle Kostüme!
Hier passiert mir, was beim Livezeichnen immer wieder leicht passieren kann: ich zeichne am Kamel herum, blicke auf, um die Form der Nüstern noch einmal genau anzusehen - und die Kamele haben die Bühne verlassen. Ich muss zu Hause die Anatomie eines Kamelkopfes noch einmal nachsehen. Das gilt natürlich auch für andere Szene, ich sehe zwar einzelne Dinge intensiver, verpasse aber dafür andere ganz. Ich müsste eigentlich wiederkommen.
Die Szenen, in denen die Entscheidung zur Hinrichtung Jesu fallen, sind wieder sehr dicht, bewegt, laut und voller Menschen. Inzwischen fällt es mir leichter, mich für eine Komposition zu entscheiden, die wesentliche Dinge enthält.
Die Szenen rund um die Kreuzigung sind so intensiv und lebensecht inszeniert, dass ich fast nicht hinsehen kann. Die zwei Marien verkörpern für mich den Schmerz ums eigene Kind und den geliebten Menschen.
Es setzt eine gewisse emotionale Erschöpfung ein nach den Sterbeszenen und der Kreuzabnahme, die an gewaltige barocke Gemälde erinnert. Das Erzählen von der Auferstehung wird symbolisch und in schönen Bildern erzählt. Den Auferstandenen nicht zu zeigen, finde ich eine gute Entscheidung. Ein letzter Chorgesang, dann verlassen alle die Bühne. Es gibt zwar einen ergriffenen Schlussapplaus, die Schauspieler kehren dafür aber nicht wie gewohnt zurück, um “ihren” Applaus entgegenzunehmen. Weil es nicht um die Schauspieler geht, sondern um die Geschichte?
Bei mir dauert es, bis sich Dinge und Eindrücke setzen. Vieles bringt mich ganz neu ins Nachdenken, das Stück klingt stärker in mir nach als eine “normale” Theatervorstellung. Eins bleibt mir ganz stark haften: egal, ob gläubig oder nicht, die Worte Jesu zu Nächsten- und Feindesliebe, die Aufforderung, nicht zu verurteilen; diese Dinge, wenn umgesetzt oder zumindest versucht, würde die Welt und unsere Gesellschaft so viel besser sein lassen.
Mein kleines Skizzenbuch erinnert mich daran, dass das Dranbleiben sich lohnt.